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Im Herbst 2020 zog es mich zu einer Pilgerfahrt für drei Wochen nach Berlin, genauer nach Friedrichshain – Kreuzberg. Gewohnt habe ich in der Nähe des Boxhagener Platzes. Von dort aus startete ich jeden Morgen meine von Neugier aber nicht Sensationslust geprägten Rundgänge, die zunächst nur enge Kreise beschrieben, sich nach einigen Tagen jedoch spiralig ausdehnten. So durchlief ich mit forschenden Blicken einerseits schon bekannte Straßen, Plätze und Parks, entdeckte aber andererseits ständig neue, unbekannte Gegenden, die bisher weiße Flecken auf meinem imaginären Stadtplan von Berlin waren. Die Eindrücke wiederholten sich täglich vor gleicher Kulisse. Und diese malerische Hintergrundlandschaft ist, wie in kaum einer anderen Stadt so prägnant wie in Berlin. Die Graffitis auf den Hauswänden, Mülleimern, Schaltkästen usw. waren es, die mich in ihren Bann zogen. Diese faszinierende Welt der Street Art zog sich auf Augenhöhe wie ein bunter chinesischer Drache durch alle Straßen, die ich durchlief. Ein großes Gesamtbild, das sich kontinuierlich ändert und weiter entwickelt. Kaum ein Motiv, das ich bei meinem letzten Aufenthalt vor sieben Jahren bewunderte, ist heute noch vorhanden. Die Bilder scheinen lebendig, scheinen sich wie von allein täglich zu überarbeiten. Mit der Kamerafunktion meines Mobiltelefons fing ich, zunächst wahllos, alle Motive am Straßenrand ein, wagte mich immer weiter vor, eingenommen von der Vielfalt und dem oft chaotischen Ausmaß der Bild- und Textquellen. Darüber hinaus waren es aber auch die Bewohner dieser Stadt, die mich in ihrem Auftreten auf ihrer heimischen Bühne immer wieder ungewollt, quasi stumm überredeten, ihnen einfach nur für ein paar Minuten zuzusehen. Stehenbleiben, abwarten, beobachten. Das waren die Merkmale, die mich durch die Straßen Berlins leiteten und zu einem „sich gehen lassen“ verführten. Da war zum Beispiel der sonderbare junge Mann. Schlurfte in abgerissenen, speckigen Kleidern und zwei verschiedenen Schuhen an den Füßen durch die Straßen. Ein Streuner wie ich, mit dem Unterschied, dass es seine Stadt war, die wir jeden Tag durchliefen. Häufig kreuzten sich unsere Wege. Ich konnte hören, wie er leise, als spräche er nur mit sich selbst, Sätze formulierte, die scheinbar keinen Sinn ergaben. Und doch, wenn ich ihm nahe genug war, dass ich sein Flüstern verstehen konnte, wurde offensichtlich, dass er seine Umgebung beschrieb und sein unmittelbares Handeln auf die jeweilige Situation. Hätte ich ihn ansprechen sollen? Nein, keinesfalls. Der Zauber der Situation wäre im gleichen Moment zerstört gewesen. Also blieb ich immer dann, wenn wir uns zufällig trafen, in der Defensive. Für eine kurze Weile stehenbleiben und zuhören, dann weiter, so wie er, der Streuner. Infolge dieses inspirierenden Aufenthaltes in meiner Hauptstadt habe ich im Eigenverlag ein Buch herausgegeben. „A Day In A Life“ ist allerdings keine Dokumentation über Street Art in Berlin, sondern die fiktiv poetischen Gedanken eines Stadtstreuners in seiner bunten, visionären Landschaft. So wie er den Tag erlebte, beobachtete und beschrieb, was ihn umgab, so habe ich ihn beobachtet und seine Wege fotografiert. Das, was er auf seinen täglichen routinierten Begehungen sah, habe auch ich gesehen und habe versucht, sein Befinden zu interpretieren. Das blieb selbstredend nur Fiktion, denn wie dicht kann man an einen fremden Menschen herankommen? Um zu erfahren, was wirklich in ihm vorging, hätte ich mit ihm ins Gespräch kommen müssen. Aber ist nicht das Geheimnis, der wundersame Eindruck, der von diesem merkwürdigen Menschen blieb, wichtiger als seine Entschlüsselung? Wie dicht kann man an diese große, unfassbare Stadt herankommen, um sie zu begreifen? Muss man sie begreifen?
A Day In A Life / Bernhard Skopnik
erschienen im b-skopnik-eigenverlag 2021
Link: b-skopnik-eigenverlag
gebunden, Hardcover
26 x 20 cm, farbig
Kontakt: info@b-skopnik.de